Obwohl die „Digitale Transformation“ sicherlich das Business-Buzzword der letzten Jahre ist, sind sich die wenigsten Führungskräfte im Klaren darüber, was in Wirklichkeit dahinter steckt und was das für sie und ihr Unternehmen bedeutet. In meinem neuen Blog-Artikel nehme ich das Konzept der Transformation genauer unter die Lupe. Dafür schöpfe ich aus dem Wissen der Systemtheorie. Klingt theoretisch? Ist es auch! Aber spannend! Besonders, wenn man sich vor Augen hält, dass vor lauter Digitalisierung oft ganz vergessen wird, was Unternehmen eigentlich sind.
Seien wir einmal ehrlich: Jetzt ist der Begriff „digitalen Transformation“ erst seit ein paar wenigen Jahren en vogue, und schon hängt er uns ganz massiv zu den Ohren raus. Oder etwa nicht? Bei mir weckt er Erinnerungen an den verbalen Totschläger der „Globalisierung“. Die Globalisierung wurde in Medien aller Art gefühlt jahrzehntelang als Ursache und Dauerausrede für alle möglichen Missstände angeführt. Kaum ein Artikel, kaum eine Studienarbeit, die nicht mit den Worten begann: „Die zunehmende Dynamik und Komplexität der Welt aufgrund der Globalisierung...“. Uah! Ich befürchte, mit der digitalen Transformation steht uns Ähnliches bevor. Doch vielleicht können wir dem ein oder anderen Treiber des Hypes ein wenig Wind aus den Segeln nehmen, wenn wir ihm (oder ihr) vor Augen führen, was unter Transformation eigentlich zu verstehen ist. Denn nicht überall wo Transformation draufsteht, ist auch Transformation drin. Lassen Sie uns daher einen Blick in die Systemtheorie werfen, denn Systemtheoretiker verschiedenster Disziplinen beschäftigen sich seit vielen Jahren mit transformativen Prozessen.
Unternehmen sind soziale Systeme
Der Systemgedanke ist nicht neu. Tatsächlich bildet bereits die Idee des „Kosmos“ bei den Vorsokratikern um das sechste Jahrhundert v. Chr. herum den Grundstein für den heutigen Systembegriff. Der Kosmos wird verstanden als ein geordnetes Ganzes (System), in dem die Elemente, die das Ganze ausmachen, in Beziehung zueinander stehen. Neben dieser inneren Ordnung zwischen den Elementen eines Systems weisen diese außerdem Interdependenzen zur Umwelt auf (Bertalanffy 1972). In der Systemtheorie werden verschiedenste Systeme untersucht. Das können beispielsweise biologische Systeme, technische Systeme oder soziale Systeme sein. Zu letzteren zählen auch Unternehmen: Unternehmen werden in der Systemtheorie als soziale Systeme verstanden. Sozial deswegen, weil vor allem Menschen die konstituierenden Elemente des Systems sind. Im Unternehmen stehen Menschen (z.B. Mitarbeiter) miteinander innerhalb des Systems und auch außerhalb des Systems mit anderen Menschen (z.B. Kunden) in Verbindung. Die Systemexistenz ist ganz grundlegend an die Einzelleistungen der Subsysteme, also der Menschen und Teams, sowie an die Qualität der Beziehungen zwischen denselbigen geknüpft.
Die innere und äußere Ordnung von Systemen, ihr Gleichgewicht, kann ganz massiv gestört werden. Bei Unternehmen kann dies beispielsweise bei Veränderungen im Marktumfeld (z.B. Digitalisierung) oder bei unternehmensinternen Krisen der Fall sein. Ob derartige Stressoren zu einer Existenzgefährdung des Systems führen, hängt von der Exponiertheit des Unternehmens ebenso ab wie von seinen Ressourcen und seiner Coping-Fähigkeit. Der Erfolg im Umgang mit Veränderungen ist also sowohl von der Ausstattung des Systems mit wertvollem Kapital abhängig als auch vom Umgang des Systems mit den Umwandlungen. Und hier kommen wir nun auf den transformativen Gedanken zu sprechen: Damit ein System eine nachhaltige Störungen seines Gleichgewichts gut übersteht, muss es sich entweder anpassen (Adaption) oder grundlegend verändern (Transformation). Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied! Der Gedanke der Adaption geht nämlich größtenteils einher mit der Beibehaltung von Strukturen und Prozessen. Das Unternehmen als solches bleibt nahezu gleich. Die Transformation hingegen führt letztlich zu einem fundamental neuen System. Somit ist ein Unternehmen nach einer Transformation quasi nicht mehr wieder zu erkennen.
Dieses neue System, Ihr digital transformiertes Unternehmen, ist nach einem Transformationsprozess also radikal anders als das Ursprungsunternehmen. Ist dem nicht so, handelt es sich um eine Adaption: das System passt sich den Umständen an, aber es verändert sich nicht in seinen grundlegenden Eigenschaften: das Verhalten der Menschen und deren Verbindungen untereinander (z.B. in Abhängigkeit der Organisationsform) sind in etwa so wie zuvor. Möchte man also ein soziales System in einen anderen Zustand bringen, ist es zwingend notwendig, dass sich die Subsysteme (Individuen, Gruppen) Veränderungen anpassen oder sich selbst verändern. Befindet sich ein Unternehmen in einer Umbruchssituation ist es wichtig, dass die Menschen in dem Unternehmen a) auf den Wandel reagieren und b) eine Veränderung des Systemstatus selbst anstoßen und gestalten. Beides erfordert Innovationskraft sowie die Fähigkeit zu lernen, neues Wissen anzuwenden und sich mit Veränderungen effektiv zu arrangieren (Folke et al. 2010).
Das Deckmäntelchen der Digitalisierung
Ich würde meiner Erfahrung nach schätzen, dass von den Unternehmen, die über eine digitale Transformation reden, 50% im Grunde gar nichts verändern möchten, 45% eine digitale Adaption initiieren und nur maximal 5% sich an eine wirkliche Transformation wagen. Wenn ich die Unterscheidung zwischen Transformation und Adaption vor oberen Führungskräften anbringe und danach frage, welchen Weg man denn nun einschlagen möchte, ist der Wille zur digitalen Transformation plötzlich meist dezent geringer als vor meinen Erläuterungen. Natürlich möchte man nicht auf der Strecke bleiben, aber ob es dann wirklich so radikal sein muss? Eine Anpassung an die Gegebenheiten klingt da doch vorerst sehr viel sicherer... In der Beratungspraxis begegnet man diesen Unternehmen zuhauf. Unter dem Deckmäntelchen der Digitalisierung wird ein bisschen hier, ein bisschen dort herumgedoktert. Das Unternehmen jedoch, dessen Kultur, Struktur und Führung, bleibt im Kern genauso (old-school) wie es vorher war - mit dem Unterschied, dass nun eine neue Software genutzt (oder auch nicht genutzt) wird.
Das ultimative Lieblingsprojekt der Adaptoren ist die Einführung eines neuen Systems. Große Summen werden investiert um mithilfe von SAP, Oracle, Salesforce & Co. die IT-Infrastruktur und Prozesse zu optimieren. „Das wird das Unternehmen fit für die Zukunft machen,“ so der optimistische End-Fünfziger, der die Geschicke des Unternehmens leitet, „da darf nicht gegeizt werden!“ Daher wird neben der Software in Beratungsleistungen zur Optimierung der Prozesse und in Trainingsprogramme für die Mitarbeiter investiert. Sicherlich sehr gut angelegtes Geld! Doch transformiert wird das Unternehmen mit einem solch technologiezentrierten Vorgehen ganz sicher nicht sein und ob es fit genug für die Zukunft sein wird, wird sich zeigen.
Menschenzentrierung schlägt Technologiezentrierung
Doch wenden wir uns zum Abschluss den Unternehmen zu, die sich wahrhaftig transformieren wollen. Digitale Transformatoren sind bereit, ein neues Geschäftsmodell und eine neue Wertschöpfung in Kauf zu nehmen. Um dies nicht nur im Außen sondern auch im Innen abbilden zu können, müssen sich diese Unternehmen sehr stark wandeln. Das betrifft die Qualifikation der Mitarbeiter, die Führung und vor allem die Unternehmenskultur. Und dieser Wandel betrifft hauptsächlich die Mitarbeiter und deren Verhalten. Die digitale Transformation in ihrem engeren Sinne ist eine menschliche Angelegenheit. Kein soziales System, das zu einem ganz überwiegenden Teil aus Menschen besteht, kann ohne diese Menschen zu einem neuen System werden. Dies ist der zentrale Grund dafür, warum Digitalisierung ein menschenzentrierter, kein technologischer Prozess sein muss. Was dies bedeutet und wie Sie mit der menschlichen Seite der Digitalisierung umgehen können, lesen Sie demnächst hier auf dem Blog. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Erfolg und viel Freude beim Adaptieren und Transformieren!
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P.S. Wer mehr über die Systemtheorie wissen möchte, dem kann ich die Lektüre von Kapitel 3.2. in meiner Dissertation ans Herz legen (ab Seite 127)!
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