Die Bohème ist zurück und hat das Potenzial von einer subkulturellen Randerscheinung des späten 19. Jahrhunderts zu einem modernen Massenphänomen zu werden. Betrachtet man die Lebensmotive der Untervierzigjährigen näher, so fällt auf, dass sie einiges gemeinsam haben mit den Bohemiens um 1900 herum. Bohemiens waren berühmt berüchtigt für ihren Individualismus und Nonkonformismus. Auch Millennials streben stärker als frühere Generationen danach, sich selbst zu verwirklichen. Der Beruf ist dabei nicht mehr, wie noch bei unseren Eltern und Großeltern, der Pfeiler, um den herum das Leben organisiert wird, sondern andersherum: die Arbeit hat sich dem Leben unterzuordnen. Und das Leben eines Bohemien ist intensiv! Was haben die Neuen Bohemiens mit ihren fatalistischen Vorgängern gemeinsam und worin unterscheiden sie sich grundlegend?
Die Bohème war zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft. Mit ihrem Lebensstil und in ihrer Kunst richtete sich die intellektuelle Randgruppe gegen die gnadenlose Leistungsorientierung in der Gesellschaft. Sie kritisierte die damit einhergehende Entfremdung des Menschen von sich selbst (Wendt 2011; Arendt 1958): Der Beruf war ein Aushängeschild, den es mit viel Fleiß und Sparsamkeit, und oftmals der Familientradition folgend, zu erfüllen galt; Freundschaften und Liebesbeziehungen wurden bewusst, ja gar berechnend, selbst im Erwachsenenalter von der Familie inszeniert. Diese Ausrichtung des Privat- und Berufslebens nach den bürgerlichen Tugenden verhinderte in den Augen der Bohemiens einen authentischen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Anstelle sich dem bürgerlichen Streben nach finanzieller Sicherheit und Rechtschaffenheit zu verschreiben, setzten die Bohemiens darauf, das Leben in vollen Zügen zu genießen, privat und beruflich. Die Arbeit hatte sich dem Lebensstil anzupassen, nicht andersherum, und wurde als weitere Ausdrucksform der eigenen Persönlichkeit und Lebensfreude betrachtet.
L’art pour l’art: Das Leben als Kunstwerk
Identitätssuche, persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung standen im Zentrum des Lebens eines Bohemiens. Dabei spielten Kreativität und Kunst eine große Rolle. „L’art pour l’art“ – die Kunst durfte ziel- und zweckfrei um ihrer selbst willen existieren. Es war erlaubt zu träumen, es war erlaubt zu schwärmen, es war erlaubt zu kreieren und es war erlaubt zu experimentieren. Entscheidungen mussten nicht immer Sinn machen, ja Irrationalität wurde sogar gefeiert. Bohemiens hatten kein Problem damit, „out-of-the-box“ zu denken und zu handeln. Dabei strahlten sie eine große Lebenskraft aus und wirkten entsprechend faszinierend (und durchaus auch polarisierend) auf ihre Mitmenschen. Die Jugend wurde in die Unendlichkeit verlängert. Dass das, inmitten eines bürgerlichen Gesellschaftssystems, nicht immer ein einfaches Unterfangen war, beschreibt Henri Murger, in seinem Roman „Scenes de la vie de bohème“ von 1851, das übrigens später als Vorlage für Puccinis Oper „La Bohème“ diente.
Henri Murger war selbst eine der Hauptfiguren in der frühen Pariser Bohème. In seiner romantisierten Dokumentation des Lebens vierer Künstler im Quartier Latin wird deutlich, welch große Bedeutung dem Individualismus in der Bohème zukam. Dieses Zelebrieren von Individualität trotz einer, wenn auch mehr oder weniger hierarchiefreien, Gruppenzugehörigkeit ist durchaus erstaunlich: Die soziale Kohäsion, der Gruppenzwang, war in den intellektuellen Zirkeln der Bohème zumindest soweit außer Kraft gesetzt, als dass dem Einzelnen ein scheinbar unendlicher Raum zum Ausdruck seiner ureigenen Identität gegeben wurde. Es war gewünscht, speziell zu sein! Ein Phänomen, welches sicherlich nicht in vielen sozialen Gruppierungen zu finden ist. Allerdings gibt es Entwicklungen in unserer heutigen Realität, die darauf hindeuten, dass Einzigartigkeit wieder zunehmend erwünscht ist. Die sozialen Medien, insbesondere Instagram, die unter den Social Media wohl die individualistischste und „unsozialste“ Plattform ist, erlauben es dem Einzelnen, sich unabhängig von der Zugehörigkeit zu Cliquen, in seiner Individualität auszudrücken. Der Lebensstil selbst wird zum Kunstwerk und die ästhetische Komponente dabei, wie damals in der Bohème des 19. Jahrhunderts, wieder zur treibenden Kraft.
Sich selbst spüren: Die Intensität des Lebens
Die Intensivierung der eigenen Wirklichkeit stand weit oben auf der Agenda eines Bohemiens. Das Hier und Jetzt zählte und musste so intensiv wie möglich erfahren werden. Die Langeweile war dabei der große Feind. Um diese zu vermeiden, griffen Bohemiens zu allen erdenklichen Mitteln: Liebesbeziehungen und emotionale Dramen, Gelegenheitsjobs und künstlerische Experimente, Alkohol und bewusstseinsverändernde Substanzen. Die Bohème hatte, ähnlich dem ihr nahestehenden Existenzialismus, damit durchaus eine dunkle, selbstzerstörerische Seite. Gemäß der Devise, dass das Leid dem Nichts vorzuziehen war, begaben sich viele Bohemiens regelmäßig in Rauschzustände. Bei solch destruktiven Gewohnheiten und einer damit einhergehenden weiterführenden Entfremdung von sich selbst darf es daher wenig verwundern, dass bekannte Bohemiens, wie etwa die Schriftstellerin Dorothy Parker, ein Mitglied des New Yorker Algonquin Circles, letztlich zu Alkoholikern wurden.
„Enorm“ war das Lieblingswort der Bohemiens vor über 100 Jahren. „Mega“ wäre wohl das heutige Pendant der Neuen Bohème dazu. Überhaupt scheinen die Lebensprinzipien der Bohème moderner denn je zu sein. Die Bohème hob den scheinbaren Dualismus zwischen Privatleben und Berufsleben auf, eine Entwicklung, die wir auch zunehmend in den jüngeren Generationen beobachten. Wenn man den Studien zu Generationsunterschieden traut, so sind auch Millennials im Schnitt sehr viel stärker an der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit interessiert als dies bei Menschen, die vor 1980 geboren wurden, der Fall ist. Selbst der finanzielle Aspekt ist mittel- bis langfristig für junge Menschen kein Grund mehr, sich selbst in einem unerfüllten Arbeitsleben aufzugeben. Für viele junge Menschen hat sich die Arbeit dem Lebensstil unterzuordnen. Sie wird nicht mehr als abgespalten von der eigenen Identität erfahren, sondern soll ein authentischer, passender Teil des eigenen Lebens sein. Eine Coaching-Kollegin von mir, Christine Bartoszko, bezeichnet dieses Phänomen in ihrem Podcast als „Vollzeitleben“.
Gewollt extravagant: Das Individuum in der Rebellion
Franziska zu Reventlow (1871-1918) war Schriftstellerin und Malerin und eine der tragenden Figuren der Münchner Bohème (Wendt 2011). Die attraktive Frau, die sich durch ihre lebensbejahende und dabei durchaus unkonventionelle Lebensführung als „Skandalgräfin“ einen Namen machte, galt als Verkörperung der gelebten intellektuellen und körperlichen Freiheit. Ihr Unabhängigkeitsstreben war legendär und reichte sogar soweit, dass sie Gelegenheitsjobs aller Art annahm, um nicht in die Abhängigkeit von einem Gönner (oder Ehemann) zu geraten. Mit ihrem Verhalten und der Tatsache, dass sie alleinerziehende Mutter war, stellte Franziska zu Reventlow das gängige Frauenbild auf den Kopf und gilt daher als eine der Vorreiterinnen des deutschen Feminismus. Wie bereits erwähnt, hatten Bohemiens wie Franziska zu Reventlow für ihre Rebellion vorrangig zweierlei Ausdrucksformen: der eigene Lebensstil – kombiniert mit einer entsprechenden Kommunikation desselbigen nach außen – und die berufliche Tätigkeit, die idealerweise künstlerischer Art war.
Was damals das kreative Künstlertum war, ist heute das Startup-Leben. Ein Startup zu gründen ist die neue Form der Rebellion der Neuen Bohème: Rebellion gegen das Sicherheitsstreben der Gesellschaft und gegen die Zwänge der von Großkonzernen und traditionellen Mittelständlern geprägten Wirtschaft. Natürlich ist es auch das eigenverantwortliche und selbstbestimmte Handeln per se, was Menschen dazu bewegt, sich selbständig zu machen. Von einem eigenen Unternehmen (oder auch der Freiberuflichkeit) versprechen sich die Menschen, persönliche und berufliche Ziele besser unter einen Hut zu bekommen als dies im Angestelltendasein möglich ist. Der Schritt in die Selbständigkeit stellt für viele ein Ausbrechen aus den Restriktionen des Angestelltendaseins dar. Zugegebenermaßen handelt es sich dabei heutzutage meist um eine „sanftere“ Rebellion als in der ursprünglichen Bohème.
Anderssein ist schön: Die Ära der Nonkonformisten
Nonkonformisten sind en vogue. Sieht das das wirtschaftliche Establishment genauso? Trotz des inneren Aufbäumens etablierter Unternehmen unter dem Druck von Digitalisierung, New Work & Co., tun sich viele Organisationen schwer, dem Individualitäts- und Sinnhaftigkeitsstreben der jüngeren Generationen wirklich Raum zu geben. Einige Personalabteilungen sind mittlerweile auf den Trichter gekommen, dass außergewöhnliche Persönlichkeiten und Werdegänge eine Bereicherung für ihre Unternehmen sind, denn (sanfte) Rebellen wirken auf andere inspirierend und fördern die Kreativität und Innovationskraft von Teams. Doch auch wenn diese Erkenntnis langsam durchdringt, begegnet man in den Unternehmen nur wenigen Revoluzzern. Dabei ist ein braves Profil und ein geradliniger Lebenslauf weder zeitgemäß noch wirklich brauchbar für die Dynamik und Wechselhaftigkeit unserer beruflichen Realität.
Wo sind diese Menschen zu finden? Die Antwort ist ganz klar: tendenziell eher in Großstädten als auf dem Land. Im Schnitt leben kreative Menschen bevorzugt in pulsierenden Metropolen (Florida 2002, Lee et al. 2004). Großstädte gelten als Zentren sozialer und technischer Innovationen, bieten vielerlei Inspirationsquellen und ermöglichen dem Einzelnen dank ihrer Anonymität auch einen „ungestraften“ Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Bereits in der Bohème vor über 100 Jahren waren es Städte wie Paris, Wien oder München, die sich zu Anziehungspunkten für Bohemiens entwickelten. Heute sind es vielleicht eher New York, London oder Berlin. Die sozialen Scheuklappen der dort lebenden Großstädter öffnen der kreativen Rebellion des Neuen Bohemiens Tür und Tor, z.B. in Form von Startup-Aktivitäten. Kein Wunder also, dass in Regionen, in denen viele kreative Menschen leben auch mehr Unternehmen gegründet werden (Eikhof & Haunschild 2006, Fritsch & Sorgner 2013, Lee et al. 2004).
Geld wie Heu: Die Besonderheiten der Neuen Bohème
Trotz vieler Gemeinsamkeiten unterscheidet sich die Neue Bohème in einigen Punkten ganz fundamental von der Bewegung rund um die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert. Während Frankreich und die französische Sprache vormals den Ton angab, ist die Neue Bohème eine angelsächsische Bewegung. Was sich ebenso grundlegend geändert hat ist der materielle Rahmen, indem sich moderne Bohemiens bewegen. Während seinerzeit ein Leben als Bohemien in den allermeisten Fällen mit einem Leben am Rande des Existenzminimums einherging, ist es dem stark angestiegenen gesellschaftlichen Wohlstand zu verdanken, dass heute die wenigsten Bohemiens mit wirklichen existentiellen Nöten zu kämpfen haben. Entweder die eigenen (unternehmerischen) Tätigkeiten werfen genug zum Leben in einer WG in Neukölln ab, oder die Solidargemeinschaften der Familie oder des Staates sorgen für ein finanzielles Auskommen. In vielen Fällen hat gar Profitstreben den Existenzsorgen Platz gemacht.
Den größten Unterschied zwischen der alten und neuen Bohème, ist meiner Meinung nach das Thema Gesellschaftskritik. In der Bohème vor rund 100 Jahren nahm die Kritik an den gängigen Prinzipien und Moralvorstellungen des Bürgertums eine tragende Rolle ein. Die Rebellion stellte sogar oftmals das Zentrum des künstlerischen Schaffens dar. Wie bereits angedeutet, fällt diese Rebellion der Neuen Bohemiens leiser aus. Vielleicht sind die Neuen Bohemiens weniger radikal, weniger fatalistisch. Vielleicht aber auch hat sich die Gesellschaft (zumindest in den Metropolen) soweit gewandelt, als dass sie dem Einzelnen, vor allem auch den Frauen, ausreichend Raum bietet, authentisch und der eigenen Persönlichkeit entsprechend zu leben. Das gesellschaftlich akzeptierte oder zumindest tolerierte Verhaltensspektrum ist heutzutage glücklicherweise sehr viel breiter, als dies noch vor einem Jahrhundert der Fall war.
Böhmische Energie: Die Bohème als Inspirationsquelle
Die lebensbejahende und freiheitliche Energie der Bohème hatte einen großen Einfluss auf mein Leben und ich kann auch Sie nur dazu ermutigen, sich von der Kraft, Intensität und Authentizität der alten Bohemiens anstecken zu lassen. Erlauben Sie sich, kreativ zu sein, zu experimentieren und vielleicht auch einmal die Normen ihres Umfelds zu durchbrechen. Sie haben das Recht darauf, Ihr Leben so zu leben, wie es zu Ihren Werten und Ihrem Temperament passt. Und es steht Ihnen voll und ganz zu, einen Job auszuüben, der sie mit Freude erfüllt. In meinem Coaching arbeite ich mit meinen Klienten daran, sich frei zu entfalten, ja vielleicht sogar einen Neustart zu wagen. Dazu braucht es eine attraktive Vision, Energie und den Mut, auch gegen existierende Rahmenbedingungen zu „rebellieren“. Wenn Sie sich für ein Coaching oder einen Vortrag zu den Themen interessieren, kontaktieren Sie mich gerne per E-Mail.
Literatur:
Arendt, H. (1958). Vita Activa oder vom tätigen Leben.
Eikhof, D. R. & Haunschild, A. (2006). Lifestyle Meets Market: Bohemian Entrepreneurs in Creative Industries. In: Creativity and Innovation Management, 15(3).
Florida, R. (2002). The Rise of the Creative Class: And How It's Transforming Work, Leisure, Community, and Everyday Life.
Fritsch, M. & Sorgner, A. (2013). Entrepreneurship and Creative Professions: A Micro-Level Analysis, SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, No. 538.
*Karl, M. (2011). Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber: Dorothy Parker. Eine Biographie.
Knaube, J. (2014). Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen.
Lee S., Y., Florida R. & Acs, Z. (2004). Creativity and Entrepreneurship: A Regional Analysis of New Firm Formation. In: Regional Studies, 38(8), 879-891.
Murger, H. (1851). Bohème: Szenen aus dem Pariser Leben.
Wendt, G. (2011). Franziska zu Reventlow: Die anmutige Rebellin. Biographie.
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